Die Anpassungsfalle: Warum es so schwerfällt, "Nein" zu sagen – und wie du deinen Raum zurückeroberst
Deine Schwierigkeiten, dich abzugrenzen, haben oft ihre Wurzeln in früheren Erfahrungen – besonders in deiner Kindheit. Damals konntest du dich gegenüber wichtigen Bezugspersonen, wie deinen Eltern, schlichtweg nicht abgrenzen, weil du vollständig von ihnen abhängig warst und auf sie angewiesen warst, um deine grundlegenden Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit und Sicherheit zu erfüllen.

Woher kommt das und was sind die Gründe, dass ich mich nicht abgrenzen kann?
Hier sind einige Kernpunkte, die dazu beitragen können:
- Die tiefe Angst vor Verlust und Alleinsein:
Das ist einer der stärksten Gründe. Wenn du dich abgrenzt, befürchtest du unbewusst, den anderen zu verlieren, dass die Bindung abbricht, dass du bestraft wirst oder in Einsamkeit landest. Diese Angst ist eine sehr alte, archaische Urangst in uns Menschen, die uns befürchten lässt, aus dem System ausgeschlossen zu werden, was evolutionär gesehen eine existenzielle Bedrohung darstellte. Niemand will den Status oder die Zugehörigkeit verlieren. - Gelerntes "Normal" und Anpassung:
In deiner Kindheit hast du bestimmte Verhaltensweisen und Dynamiken als "normal" abgespeichert, auch wenn sie aus heutiger Sicht vielleicht gar nicht gesund waren. Du hast vielleicht gelernt, dich übermäßig anzupassen, um dazuzugehören oder um nichts Schlimmes zu erleben. Manchmal verschwindest du dabei förmlich in Beziehungen, weil du unbewusst dem anderen folgst und nicht wirklich du selbst vorkommst. - Loyalität (auch ungesunde):
Oft sind wir unseren Familien oder Bezugspersonen gegenüber loyal, selbst wenn uns das schadet. Das kommt auch aus der Angst heraus, dass es uns schlecht gehen könnte, wenn wir "illoyal" sind. Diese "toxische Loyalität" kann dich daran hindern, deinen eigenen Weg zu gehen. - Schuld- und Schamgefühle:
Die Angst, andere schuldig zu fühlen oder selbst als "schuldig" dazustehen, hindert uns daran, über Dinge zu sprechen oder Grenzen zu setzen. Schuldgefühle sind oft mit der Befürchtung verbunden, das Recht auf Zugehörigkeit zu verlieren. Scham kann dazu führen, dass wir uns von uns selbst isolieren. - Der mangelnde Zugang zu eigenen Bedürfnissen und dem Körper:
Wenn du dich schlecht abgrenzen kannst, spürst du vielleicht deine eigenen Bedürfnisse nicht klar. Frühe, stressreiche Erfahrungen können dazu führen, dass der Kontakt zum eigenen Körper und damit zu Gefühlen und Bedürfnissen blockiert ist. Wenn du nicht spürst, was dein Körper braucht oder wo deine Grenzen sind, neigst du vielleicht dazu, über deine eigenen Grenzen zu gehen, bis hin zu Burnout. - "Es alleine schaffen zu müssen":
Manchmal verbirgt sich hinter der Schwierigkeit, sich abzugrenzen, der tiefe Glaube, alles alleine schaffen zu müssen. Das kann eine alte Überlebensstrategie sein, die aus dem Misstrauen gegenüber Bindung entsteht, weil man gelernt hat, dass niemand hilft. - Die Wiederholung alter Muster:
Wir tendieren dazu, die gleichen Muster in Beziehungen immer wieder zu durchleben, weil sie sich vertraut anfühlen, selbst wenn sie leidvoll sind. Unser Nervensystem und unser Bindungssystem erkennen bestimmte Muster als "bekannt" wieder, und wir handeln unbewusst danach, um uns in diesen vertrauten Mustern sicher zu fühlen. - Internalisierte Überzeugungen und Glaubenssätze:
Früh erlernte Glaubenssätze wie "Ich bin nicht liebenswert", "Ich bin nicht gut genug" oder "Ich habe es nicht verdient, glücklich zu sein" können tief in dir verankert sein und deine Fähigkeit, dich abzugrenzen, beeinträchtigen. Manchmal sind das auch "Introjekte", also innere Stimmen, die du von außen übernommen hast (z.B. von kritischen Bezugspersonen) und die dich selbst abwerten oder antreiben. - Angst vor Veränderung:
Wenn du dich abgrenzt, führt das zu Veränderungen. Wenn du früher traumatische Verluste erlebt hast, denen du nichts entgegensetzen konntest, kann die Angst vor Veränderung sehr groß sein, weil Veränderung mit Schmerz oder Überwältigung assoziiert wird. Dein Nervensystem empfindet Veränderung und Öffnung oft erstmal als Bedrohung.
Wie kann ich lernen, mich abzugrenzen?
Der Weg, sich abzugrenzen, ist ein Prozess, der Zeit braucht und nicht immer linear verläuft. Es ist wie eine Reise zu dir selbst. Das Wichtigste ist, dass du diesen Weg nicht alleine gehen musst und dir Unterstützung suchen darfst.
Hier sind einige Ansätze und Schritte, die dir helfen können:
- Bewusstwerden und Anerkennen:
- Erkenne deine Muster: Der erste und vielleicht wichtigste Schritt ist, dir bewusst zu werden, was in dir abläuft und welche Muster du lebst. Frage dich: "Was befürchte ich unbewusst, wenn ich mich abgrenze?".
- Wohlwollende Haltung: Wenn du diese Muster oder Ängste bei dir bemerkst, begegne dir selbst mit einer wohlwollenden, nicht urteilenden und respektvollen Haltung. Das ist die Grundlage für jede Heilung. Anstatt dich zu verurteilen, frage dich, welchen guten Grund dieses Verhalten hat – oft ist es eine alte Schutzstrategie, die dir einst zum Überleben gedient hat.
- Wissen und Verstehen: Informiere dich über Trauma und seine Folgen, über das Nervensystem und Bindungsmuster. Wissen hilft dir, deine Erfahrungen einzuordnen und zu verstehen, dass du nicht "falsch" bist, sondern geprägt. Das schafft Sicherheit und Entlastung.
- Verständnis für dein Nervensystem:
- Nervensystem-Regulation: Lerne, dein Nervensystem zu regulieren, da Abgrenzung aus einem regulierten Zustand heraus leichter fällt. Wenn dein Nervensystem im Überlebensmodus ist (Kampf, Flucht, Erstarrung), ist es schwierig, sich sicher zu fühlen oder bewusst zu handeln.
- Körperwahrnehmung stärken: Verbinde dich wieder mit deinem Körper. Wenn du spürst, was in deinem Körper passiert, kannst du auch deine Bedürfnisse und Grenzen besser wahrnehmen. Beginne damit in kleinen Schritten, ohne dich zu überfordern. Frage dich zum Beispiel: "Wie fühlt sich mein Körper gerade an? Ist es angenehm oder unangenehm?".
- Die Beziehung zu dir selbst stärken:
- Selbstfürsorge lernen: Wenn Selbstregulation alleine schwerfällt, ist es wichtig, dass du dir Unterstützung suchst. Das ist kein Makel, sondern eine Möglichkeit, etwas nachzulernen, was du früher nicht lernen konntest.
- Eigene Bedürfnisse erkennen und kommunizieren: Lerne, deine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken. Das ist ein Weg, dich selbst ernst zu nehmen und deine Würde wiederherzustellen.
- "Das darfst du nicht" oder "Das kannst du nicht" hinterfragen: Wenn du innere Stimmen hörst, die dir das sagen, frage dich, woher diese Botschaft kommt und ob sie heute noch gültig ist. Manchmal ist es hilfreich, genau das Gegenteil von dem zu tun, was diese Stimme dir verbieten will – aber immer mit Bedacht und im sicheren Rahmen.
- Umgang mit überflutenden Gefühlen: Lerne, intensive Gefühle zu "halten", anstatt sie zu verdrängen oder dich von ihnen überwältigen zu lassen. Das bedeutet, sie zu spüren, ohne davon weggespült zu werden. Benenne die Gefühle – "name it to tame it".
- Beziehungen neu gestalten:
- Abgrenzung bedeutet nicht Bindungsabbruch: Verstehe, dass gelingende Abgrenzung bedeutet, bei dir selbst zu sein und gleichzeitig mit anderen verbunden zu bleiben. Es geht nicht darum, Menschen "fallen zu lassen", sondern um gesunde Selbstfürsorge, um überhaupt langfristig in Verbindung bleiben zu können.
- Korrigierende Erfahrungen suchen: Um alte Beziehungsmuster zu überwinden, brauchen wir neue, korrigierende Erfahrungen. Das kann in unterstützenden, traumasensiblen Begleitungen geschehen, wo du in einem sicheren Raum bewusst neue Beziehungserfahrungen machen kannst.
- Kommunikation und Neugier: Übe dich darin, nachzufragen und wirklich zuzuhören, anstatt Lücken in der Kommunikation zu füllen oder Annahmen zu treffen. Entwickle Neugier für die Hintergründe von Reaktionen – sowohl bei dir selbst als auch bei anderen.
Der Weg zur besseren Abgrenzung ist ein Weg des inneren Wachstums, der dich mit deiner wahren Natur und deinen unentfalteten Potenzialen in Kontakt bringt. Es geht darum, deine eigene Würde wiederzuerlangen und zu lernen, würdevoll mit dir selbst umzugehen. Du darfst lernen, dass du nicht immer stark sein musst, sondern auch deine Verletzlichkeit zeigen kannst, was wiederum andere einladen kann, dasselbe zu tun.
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Viele Menschen erleben, dass Zwänge und ein starkes Kontrollbedürfnis unbewusst als eine Art Schutzschild gegen Ängste wirken. Stell dir vor, du hast in der Vergangenheit Situationen erlebt, in denen du dich völlig hilflos und überwältigt gefühlt hast. Als Kind bist du vollständig auf deine Bezugspersonen angewiesen und kannst dich ihnen gegenüber nicht wehren oder fliehen, wenn du dich bedroht fühlst. In solchen Momenten, wo du keine Kontrolle hattest, entwickelt dein System eine tiefe Sehnsucht, diese Kontrolle später wiederzuerlangen.

Aus einer traumasensiblen Perspektive sind Depressionen oft nicht nur eine "Stoffwechselkrankheit im Gehirn", sondern ein Ausdruck von tiefer innerer Dysregulation – das bedeutet, dein Nervensystem ist aus dem Gleichgewicht geraten. Es ist oft ein sogenannter "Überlebensmodus", eine alte Schutzstrategie deines Systems, um mit überwältigenden Gefühlen oder chronischem Stress umzugehen, die besonders in der Kindheit gelernt wurden.

Stell dir vor, dein Körper ist ein hochsensibles Alarmsystem. Dieses System ist darauf ausgelegt, dich vor Gefahren zu schützen. Wenn es aber in der Vergangenheit zu überwältigenden oder langanhaltenden Stresssituationen gekommen ist – also zu einem Trauma – dann kann es sein, dass dieses Alarmsystem quasi "hängen geblieben" ist oder überempfindlich reagiert.